
Frau Dazumal
Butzbergen – eine Stadt so klein wie eine große Familie. Jeder kennt hier jeden und alle, die hier wohnen, sind meine Nachbarn. Das liegt daran, dass meine Stadt so klein ist. Butzklein. Wir wohnen in der schönsten Landschaft, die du dir vorstellen kannst, die Luft ist frisch und würzig, der Himmel kann sich in über zwanzig verschiedene Blautöne verwandeln, hier leben mehr Tiere als Menschen und alle haben ihre Häuser, Höhlen und Nester um einen kleinen Berg herum gebaut. Den Butzberg. Meine Nachbarn kennen mich schon lange und ich natürlich auch sie. Immerhin bin ich 10, da hat man schon so einiges erlebt, auch mit den Nachbarn. Und deshalb weiß ich genau, dass jeder von ihnen etwas ganz Besonderes ist. Und keiner wie der andere oder wie du oder ich. Nehmen wir zum Beispiel Frau Dazumal: Wenn sie singt, bekommt man von oben bis unten eine wohlige Gänsehaut, sie schimpft nie, hat immer gute Laune und einen kleinen Laden, in dem man einfach so verschwinden kann.
Frau Dazumals Laden ist gleich vorne an der Ecke meiner Straße. Da wo der Bus Endstation hat, leer am Straßenrand steht und Max der Fahrer auf der letzten Bank seine Comics liest. In diesem kleinen Laden kann man alte und sogar uralte Sachen kaufen, die man früher mal gebraucht hat.

„Antiquitäten heißt das, Leander“, korrigiert mich Oma Ruth jedes Mal, wenn ich „alte Sachen“ sage. Schon wenn man reinkommt, riecht es irgendwie seltsam und ein wenig muffig. Ein bisschen so wie auch bei Oma Ruth im Keller ehrlich gesagt, dort stehen auch so viele Dinge, die man nicht mehr braucht. Ich war schon oft in Frau Dazumals Laden und inzwischen kenne ich mich gut aus. Da gibt es zum Beispiel eine ganze Kiste voller Stöcke – Spazierstöcke genauer gesagt, auch „Gehstock“ genannt. So ein Gehstock hat oben einen schön verzierten Griff, meist aus Holz, manchmal auch farbig, und am unteren Ende ist eine kleine Metallspitze angebracht. Früher nahm man ihn gern mit auf längere Ausflüge und so konnte man beim Gehen mit dem Stock immer lustige Geräusche machen. Tock, Schritt, tock, Schritt, tock. Opa Heinz hatte auch so einen. Es macht Riesenspaß, damit zu laufen, man muss nur aufpassen, dass man mit der Spitze keine Käfer oder Schnecken erwischt, was Opa Heinz nicht immer gelungen ist.
Ganz besonders in dem Laden mag ich die Ecke mit den Operngläsern: Das sind kleine schwarze Teile, die ein bisschen so aussehen wie ein Fernglas. Verkehrt herum durchgeguckt wird die Welt winzig. Ise, meine kleine Schwester, also eigentlich Luise, aber soviel Zeit nimmt sich keiner, also Ise jedenfalls ist so mal durch den Laden gerannt, mit dem Opernglas verkehrt herum vor den Augen, und hat dabei einen riesigen Stapel alter Kinohefte umgeworfen. Rrrrums! Es war ein komplettes Chaos, die Hefte lagen überall auf dem Boden über die alten Sachen verstreut. Aber Frau Dazumal schimpft nie.
„Sind die auch mal wieder abgestaubt“, hat sie nur gesagt und: „Haste eigentlich Recht, hier vorn sind sie nur im Weg. Komm wir legen sie mal nach hinten an die Treppe, Mäuseken.“
Ja siehste? – So sind meine Nachbarn.

Manchmal, wenn keine Kunden im Laden sind, darf ich sogar die alten Spieluhren ankurbeln und zwar alle zur gleichen Zeit. Das ist nicht besonders laut, klingt aber so schräge, dass es einem gewaltig in den Ohren zieht und dann den Rücken runterkribbelt. Besonders schön finde ich auch die gläsernen Briefbeschwerer. Ich weiß zwar nicht, warum man früher Briefe beschweren musste, aber die Dinger fühlen sich großartig an: glatt, immer auch ein bisschen kalt, ganz schwer, logo, und im Innern ist eine Figur eingegossen. Ein Stück Koralle gibt es da zum Beispiel oder auch etwas, das wie ein Knochen aussieht, ist aber eher ein Reptil… oder – wie hieß es noch, Fossil meine ich – also ein ganz, GANZ altes Tier. Schon tot, aber man kann alles noch gut erkennen.

Geht man im Laden hinten um die Ecke, gelangt man in die kleine, grüne Kammer. Dort stehen die besonders seltenen und wertvollen Antiquitäten, die deshalb auch besonders viel kosten. Frau Dazumal ist immer dabei, wenn ein Kunde diesen Raum betritt. Dunkel und ein wenig geheimnisvoll ist der Ort, nur ein schmales Fenster zum Hof lässt Licht hinein. Hier dürfen wir auch nie alleine spielen, „denn wenn euch davon etwas kaputt geht“, sagt Frau Dazumal immer und zieht dann die eine Augenbraue ganz hoch, „würden wir alle pleite gehen. Soviel Geld passt selbst ins dickste Sparschwein nicht.“ Kein Wunder, dass man die Waren dort auch nicht einfach anfassen darf. Was Philipp Gonzo allerdings überhaupt nicht stört. Der kam schon mindestens drei Mal in Frau Dazumals Laden, ging immer direkt zur kleinen Kammer, um immer das Gleiche anzusehen und ein Mal sogar einfach aus der Vitrine zu nehmen: Eine antike, goldene Taschenuhr aus England, 18. Jahrhundert glaube ich, jedenfalls über 300 Jahre alt sagt Frau Dazumal, 5mal so alt wie Oma Ruth also, reich verziert und mit einem gläsernen Deckel zum Aufklappen. Hier lässt Frau Dazumal auch nicht mit sich handeln, der Preis bleibt derselbe und Philipp Gonzo verlässt am Ende immer mit hängenden Schultern den Laden. Die Uhr ist auch wirklich ein Schatz wie aus einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Mir selbst gefallen allerdings die beiden Hunde aus Bronze mit dem kleinen Mädchen noch besser. Die sind auch nicht halb so teuer, aber das ist eben Geschmackssache.

Das allerbeste aber, was je in Frau Dazumals Laden geliefert wurde, war der Schlottomog. Er war in einem langen, ultra schweren Karton verpackt, der mir gleich schon irgendwie merkwürdig vorkam. Mit einem Buckel obenauf, so als würde er gleich platzen. Man könnte sagen, ohne zu wissen, was ein Schlottomog ist oder je vorher einen gesehen zu haben, habe ICH gleich gewusst, dass da was nicht mit rechten Dingen zugeht.
Ende Teil 1